Warum sind 30 Jahre NGS in Sachsen ein Erfolg aus Ihrer Sicht?
Das Neugeborenenscreening erlaubt das frühzeitige präsymptomatische Erkennen einer steigenden Anzahl schwerwiegender angeborener Erkrankungen. Betroffene Kinder können uns Spezialisten mit Hilfe des NGS bereits in den ersten Tagen zur Bestätigungsdiagnostik und Therapie zugeführt werden. Das bedeutet, dass mit dem NGS in den meisten Fällen schwerwiegende Folgen bis hin zum Tod vermieden werden können. Kinder, die früher im Laufe des Lebens eine schwerste körperliche und/oder geistige Behinderung erlitten haben entwickeln sich heute durch das NGS zu gesunden Menschen, die die gleichen Chancen im Leben haben wie ihre gesunden Geschwister. Dies ist ein unglaublicher medizinischer Erfolg, von dem allein in Sachsen jährlich etwa 20-30 Neugeborene profitieren.
Welche medizinischen Möglichkeiten eröffnen sich durch das Screening?
Das NGS ermöglicht die präsymptomatische Therapie betroffener Patienten, mit Hilfe derer die Patienten letztlich gar nicht zu Erkrankten werden, sondern ein Leben Gesunder führen können unter Beachtung bestimmter Präventionsmaßnahmen, die jeweils Diagnosespezifisch sind.
Was bedeutet das NGS für die präventive Behandlung von Neugeborenen / Kleinkindern?
Diese können sich trotz Vorliegen einer schweren, angeborenen Grunderkrankung gesund entwickeln, führen ein Leben wie der Rest ihrer Familien auf. Die Begleitung/Therapie/Prävention dieser Patienten endet nicht mit dem Neugeborenen/Kleinkindalter wie die Frage vermuten lässt. Die betroffenen Patienten benötigen (und erhalten) eine lebensbegleitende Betreuung in einem hochspezialisierten Behandlungszentrum. Das NGS legt damit für diese Patienten den wesentlichen Grundstein für ihr gesamtes weiteres Leben. Für die betreuenden Spezialisten ist das NGS die Grundvoraussetzung dafür, dass Prävention überhaupt erst möglich wird.
Wie hat sich Ihre Arbeit durch das NGS verändert?
Die Arbeit der Spezialisten, die im NGS diagnostizierte Kinder betreuen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verändert. Vor Einführung des NGS wurden in der Regel klinisch schwer kranke Patienten in den Spezialambulanzen betreut, mit nicht mehr korrigierbaren Folgen der initial unerkennbaren Erkrankung. Der Großteil der Patienten war körperlich und geistig schwer behindert, oftmals waren die Patienten bis zum Zeitpunkt einer ersten metabolischen Krise normal entwickelt und verloren im Rahmen der Krise all ihre bis dahin erworbenen Fähigkeiten unwiederbringlich. Der sozialmedizinische Betreuungsbedarf der betroffenen Familien war immens, therapeutische Ansätze oft erfolglos. Seit der Früherkennung der Erkrankungen im NGS sind die meisten der betroffenen Patienten gesund und verbleiben es auch. Unsere Arbeit fokussiert sich heute auf komplexe Schulung aller Beteiligten (Angehörige, Patienten selbst), der Erstellung komplexer Therapiepläne (diätetisch und medikamentös) zur Vermeidung metabolischer Krisen und damit unerwünschter Folgeerkrankungen. Viele früher als fatal eingestufte Diagnosen sind heute mit einem gesunden Leben vereinbar, sofern spezifische Maßnahmen eingehalten werden. Oftmals besteht für den behandelnden Spezialisten heute die größte Herausforderung darin, die heranwachsenden Kinder, Jugendlichen und auch Eltern von der Lebensnotwendigkeit der Präventionsmaßnahmen zu überzeugen, denn erfreulicherweise empfinden sich die allermeisten Patienten, deren Diagnose im NGS gestellt wurde nicht als krank sondern als gesund.
Mit zunehmender Zahl an präsymptomatisch gut zu behandelnden angeborenen Erkrankungen wird sich auch die Zahl der Zielerkrankungen im NGS ständig erhöhen. Das hat in den vergangenen Jahren, insbesondere seit 2005 zu einer deutlichen Erweiterung des Erkrankungsspektrums geführt. Da es sich bei allen im NGS diagnostizierten Erkrankungen um seltene Erkrankungen handelt werden die fachlichen Anforderungen an die Behandlungszentren im größer und inhaltlich differenzierter. Das betrifft nicht nur die betreuenden Ärzte sondern auch die mitbetreuenden ErnährungswissenschaftlerInnen und das Pflegepersonal in den Ambulanzen und auf den Stationen.
In früheren Zeiten beschränkten sich die therapeutischen Möglichkeiten oftmals auf die Linderung spezieller Symptome der Spätfolgen (z.B. Beseitigung von Mangelernährung, Therapie von Krampfanfällen), der Ausstattung der Familien mit Hilfsmitteln (z.B. Rollstuhl, Pflegebett) oder auch der Verordnung von Fördermaßnahmen (z.B.: Logopädie mit Schlucktraining, Ergotherapie). Heute gehören zunehmend neu entwickelte Medikamente, hochspezialisierte genau bilanzierte diätetische Therapien, spezifische Enzymersatztherapien und die Organtransplantation mit nachfolgender spezifischer Betreuung zum Behandlungsumfang. Das hat das Berufsbild der involvierten Ärzte deutlich beeinflusst.
Hinzu kommt, dass die Gesamtzahl der zu betreuenden Patienten mit steigender Anzahl an Zielerkrankungen kontinuierlich zunimmt.
Wie wird sich das Screening in der Zukunft weiterentwickeln?
Die Anzahl der zu screenenden Zielerkrankungen wird auch in Zukunft weiter rasch steigen. Das Spektrum der involvierten Subspezialisierungen hat sich bereits deutlich erweitert. Wurden bis zum Jahr 2005 nur angeborene endokrinologische und metabolische Erkrankungen im NGS erfasst, so kamen in den vergangenen Jahren Erkrankungen weiterer pädiatrischer Subspezialisierungen (Pulmologie, Immunologie, Hämatologie) hinzu. Dieser Trend wird sich weiter fortsetzen, da viele im Rahmen der Betreuung von Patienten mit angeborenen Stoffwchselerkrankungen etablierte Therapien wie z.B. die Enzymersatztherapie oder auch die Gentherapie, heute für eine Vielzahl völlig unterschiedlicher Erkrankungen zur Verfügung stehen oder derzeit etabliert werden. Bis zum Jahr 2005 umfasste das Neugeborenenscreening 5 verschiedene angeborene Erkrankungen, im Jahr 2021 wird die Anzahl der Zielerkrankungen von derzeit bereits 14 auf 16 erhöht.