"Mit dem Gedenken an die Vergangenheit tut sich unsere, an der Gegenwart orientierte und auf die Zukunft hoffende Gesellschaft, schwer. Erst aufgerüttelt durch unausweichlich das Bewußtsein beanspruchende Ereignisse, wie jüngst den antisemitischen Terroranschlag in Halle, werden wir einmal mehr nachdenklich. Der 9. November heute vor 30 Jahren war ein Freudentag und er strahlt auch auf den heutigen Sonnabend aus. Der 9. November vor 81 Jahren setzte die Initialzündung von der Entwicklung eines occulten Antisemitismus hin in offene, rohe, desavouierende Gewalt gegen Juden, die keine Grenze mehr kannte. Das Ergebnis kennen wir, unter den Folgen leiden wir wie unter einer Erbsünde. Damals benahmen sich die Deutschen nicht wehrhaft gegen Terror und Ausgrenzung. Und heute? Wie weit sind wir wehrhaft gegen Hetze, Verleumdung, Mobbing, Parolen, völkisches Denken? Wie wehrhaft sind der Staat, die Gesellschaft, der Einzelne gegen ethische Grenzüberschreitungen?
Wir beschäftigen uns als AG Ethik, Recht, Geschichte in der Medizin mit Grenzfragen der menschlichen Existenz, insbesondere der uns anvertrauten Patienten. Wir loten diese Grenzfragen aus in ihrer aktuellen Bedeutung für Betreuung, Fürsorge, Zuwendung und Behandlung. Die Grundlage bildet nach wie vor der Hippokratische Eid. Ihn zu beachten ist unsere Pflicht, die Menschen zu respektieren und zu betreuen unsere Aufgabe.
Mit unserem heutigen Gedenken an diesem Eingang zum Klinikum, das von so vielen Hilfe suchenden Menschen beansprucht wird, wollen wir auch verhindern, dass nicht in späteren Jahrzehnten neue Stolpersteine infolge Ausgrenzung von neuen Minderheiten gepflastert werden müssen. Das Gedenken an die unselige Vergangenheit darf deshalb nicht verblassen, sondern muß vertieft werden, so wie wir heute die Stolpersteine aufpoliert haben. Seien wir wachsam, sowohl fachlich- medizinisch als auch gesellschaftlich- politisch. Die Meinungsfreiheit darf ethische Leitlinien nicht überspringen. Halle war ein Signal, das Progrom vom 9. November 1938 war ein Signal, dessen Fernwirkung wir heute hier erleben. Mögen die Lehren aus der Vergangenheit für unsere Zukunft und die Zukunft der uns folgenden Generationen immer präsent bleiben."