Magersucht, Bulimie, Binge-Eating-Störung – die Zahl der Menschen, die ein essgestörtes Verhalten zeigen, steigt seit Jahren an. Wissenschaftlichen Analysen zufolge ist dieses insbesondere unter Kindern und Jugendlichen weit verbreitet. Eltern sind daher oft die Ersten, die eine Essstörung oder ein Risiko dafür bemerken. Prof. Anja Hilbert arbeitet als Psychologin am Universitätsklinikum Leipzig (UKL) und beschäftigt sich mit Essstörungen und Adipositas im Kindes- und Erwachsenenalter. Sie rät Eltern, die eine solche Störung bei ihrem Kind vermuten, genau hinzuschauen und auch ihr eigenes Verhalten und Körperideal zu hinterfragen.
Essstörungen bei Kindern und Jugendlichen sind ein ernstzunehmendes Problem: Unbehandelt führen sie zu schwerwiegenden gesundheitlichen Problemen. Umso wichtiger ist es, sagt Prof. Anja Hilbert, eine solche Erkrankung früh zu erkennen und zu verstehen. „Essstörungen sind überdauernde Störungen im Essverhalten oder in einem Verhalten, was auf eine Kontrolle von Figur und Gewicht ausgerichtet ist."
Klassisches Beispiel für eine Essstörung ist die Anorexia nervosa, auch Pubertätsmagersucht genannt. Durch das Untergewicht der Betroffenen ist sie die sichtbarste, aber seltenste Form der Erkrankung: Schätzungen zufolge sind von ihr rund 0,4 Prozent der jungen Frauen betroffen. Weiter verbreitet ist die Ess-Brech-Sucht oder Bulimia nervosa; hier geht man von ca. einem Prozent Betroffenen in der Bevölkerung aus. Die häufigste Essstörung ist die Binge-Eating-Störung, bei der Menschen unkontrolliert große Mengen an Nahrungsmitteln konsumieren, ohne dabei – wie bei der Bulimia nervosa – regelmäßig extreme Maßnahmen zur Gewichtskontrolle wie das selbst herbeigeführte Erbrechen einzusetzen. Hiervon sind zwei bis fünf Prozent der Bevölkerung betroffen.
Daneben, sagt Prof. Anja Hilbert, kristallisiert sich seit ein paar Jahren eine weitere wichtige Essstörung heraus: die Störung mit Vermeidung und/oder Einschränkung der Nahrungsaufnahme, in der Fachsprache kurz AFRID genannt (Avoidant Restrictive Food Intake Disorder). „Bei dieser Essstörung essen vor allem Kinder über einen langen Zeitraum sehr selektiv oder zu wenig. Anders als bei der Anorexia nervosa erfolgt dies jedoch nicht aus Figur- oder Gewichtsgründen. Andere Kinder mit AFRID haben Angst vor dem Essen, beispielsweise dabei zu ersticken, oder sind sensorisch so empfindlich, dass sie Nahrung nicht im Mund haben mögen."
Charakteristisch für Essstörungen ist, dass sie meist im Jugendalter zutage treten, wobei es in vielen Fällen bereits erste Anzeichen im Kindesalter gibt. ARFID tritt häufig bereits sogar ab dem frühen Kindesalter auf. Auf der Suche nach den Ursachen, sehen sich Prof. Anja Hilbert und ihr Team von der Klinik und Poliklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des UKL mit einer ganzen Reihe von Faktoren konfrontiert: Hier spielen Schlankheitsideale und soziale Medien ebenso eine Rolle wie das Selbstwertgefühl oder Figursorgen des betroffenen Kindes, seine Erbanlagen und sein familiärer Hintergrund. „Essstörungen bewegen sich in Familien. Wenn ein Elternteil zum Beispiel selbst eine Binge-Eating-Störung hat, ist es umso wahrscheinlicher, dass auch eines der Kinder davon betroffen ist. Hinzukommt u. a. gewichtsbezogenes Teasing, das heißt, wenn Menschen, deren Körper nicht dem aktuellen Schlankheitsideal entspricht, dafür kritisiert oder auch diskriminiert werden, kann dies das Risiko von Essstörungen erhöhen."
Vor diesem Hintergrund rät Prof. Anja Hilbert Müttern und Vätern, in Bezug auf Veränderungen im Essverhalten ihrer Kinder aufmerksam zu sein und sich zu fragen: Wie geht es meinem Kind? Was isst es? Hält es strikt Diät? Isst es heimlich oder unkontrolliert? Wenn ja, sagt Prof. Hilbert, können Eltern sich informieren – etwa bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Hilfreich sei auch die Patientenleitlinie zur Diagnostik und Therapie von Essstörungen der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften. „Diese enthält ganz klare Tipps, wann man sich zum Beispiel an eine Beratungsstelle für Essstörungen wenden sollte."
Daneben rät die Psychologin Eltern, auch ihr eigenes Essverhalten und Körperideal zu hinterfragen: Essen sie gemeinsam mit ihren Kindern am Tisch? Bereiten sie ihre Nahrungsmittel frisch zu? Genießen sie die gemeinsamen Mahlzeiten oder sind Mahlzeiten durch Streit und Kritik geprägt, weil ein Elternteil andauernd Diät hält und glaubt, der Rest der Familie müsse das auch? Gerade der Genuss sei wichtig, sagt Prof. Anja Hilbert. „Seit der frühesten Kindheit essen wir und haben zumeist schöne, positive Erlebnisse dabei. Solche Erlebnisse zu schaffen, halte ich für eine gesunde Entwicklung für wichtig." Genauso wichtig sei es, ein Kind mit einer Essstörung nicht abzulehnen. Stattdessen sollten Eltern deutlich machen, dass sie es lieben und zu ihm stehen – egal wie es sich entwickelt, wie leicht oder schwer es ist.
In: Gesundheitsmagazin "Liebigstraße aktuell" 12 /23 (PDF). Eine Übersicht aller Gesundheitsmagazine finden Sie hier.