Die institutionelle Grundlage der deutschen akademischen Kinder- und
Jugendpsychiatrie entstand während eines fließenden Prozesses im Wesentlichen
nach dem Ersten Weltkrieg und in den 1920er Jahren. Vergleiche legen die
Schlussfolgerung nahe, dass sich das Fach an der Leipziger Universität mit am
frühesten etablieren konnte.
Als gesellschaftspolitischer Faktor wirkte die soziale Verwerfung in
Deutschland im Gefolge der Kriegsniederlage und Wirtschaftskrisen
beschleunigend. Eine Zuwendung der allgemeinen Psychiatrie zu Fragen der Jugend
stand auf der Tagesordnung, denn die Aufnahmen verwahrloster und gestörter
Mädchen und Jungen in psychiatrische Kliniken stiegen drastisch an. Auch in der
Leipziger Psychiatrischen und Nervenklinik werden 1923 erstmals 70 und 1924 102
behandelte Kinder registriert. Da erschien es als günstig, unter den ärztlichen
Assistenten einen studierten Pädagogen zur Verfügung zu haben, der sich
besonders der jungen Patienten annahm. Dies war Richard Arwed Pfeifer
(1877 - 1957), zumal Pfeifer bereits seit 1920 eine Sprechstunde als
Vertrauensarzt der Zentrale für Jugendfürsorge abhielt. Im Sinne dieser
beratenden, prognostischen und zunehmend auch therapeutischen Tätigkeit im
Auftrag der Stadt Leipzig, des sächsischen Justizministeriums, religiöser
Gemeinden, Wohlfahrtseinrichtungen sowie privater und Stiftungen Leipziger
Unternehmen machte sich sehr bald eine ambulante und stationäre Beobachtung und
Versorgung für Kinder notwendig.
| Richard Arwed Pfeifer (1877 - 1957) war sowohl vor als auch nach dem Zweiten Weltkrieg Beförderer der Leipziger Universitätskinderpsychiatrie (Quelle: UAL, Fotosammlung N 313). |
So kam an der Nervenklinik die Nervenpoliklinik für Kinder zustande und je
eine Beobachtungsabteilung für Knaben und Mädchen. Zunächst nahm im Juni 1925
eine Abteilung für 20 Jungen und später auch für 20 Mädchen in den ehemaligen,
aber nie genutzten Steinbaracken für zu isolierende Kranke mit ansteckenden
Krankheiten ihren Betrieb auf. Im gleichen Monat, Ende Juni 1925, wurde eine
ständige ambulante Sprechstunde zur Beratung und Untersuchung von jugendlichen
Psychopathen eingerichtet. Der zum April 1925 als Ordinarius für Psychiatrie und
Neurologie nach Leipzig berufene Paul Schröder (1873 - 1941) hatte diesen
klinischen, wissenschaftlichen und Lehr- Schwerpunkt, für den er persönlich seit
Langem ein großes Interesse hegte, zunächst Pfeifer übertragen. Jedoch muss es
bald zu menschlichen und fachlichen Differenzen zwischen beiden gekommen sein,
denn der kinderpsychiatrischen Arbeitsgruppe gehört Pfeifer bald nicht mehr an,
dafür aber während der nächsten rund 15 Jahre u. a. Hans Bürger-Prinz
(1897 - 1976), Hans Heinze (1895 - 1983), Gerhard J. J. Schorsch (1900 - 1992) und
Anna Leiter (1901 - 1990). Die drei Letzteren sollten dann nacheinander jeweils
zum Leiter der kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilung der Klinik ernannt
werden.
| Paul Schröder (1873 - 1941) gilt als führender deutscher und europäischer
Kinderpsychiater seiner Zeit. Viele seiner späteren Forschungen und
Schlussfolgerungen müssen im Kontext der nationalsozialistischen Eugenik heute
kritisch gesehen werden (Quelle: Universität Leipzig, Karl-Sudhoff-Institut,
Bildersammlung). |