Humboldt-Professor Jens Meiler nutzt die neuen Methoden der computergestützten Wirkstoffentwicklung auf der Suche nach einem Impfstoff gegen das Coronavirus.
Ziel Ihrer aktuellen Forschung ist es, am Computer einen Impfstoff gegen das Coronavirus zu designen.
Wie muss man sich das vorstellen? Wo setzt Ihre Forschung an?
Es gibt ganz verschiedene Wege, Impfstoffe herzustellen. Ich konzentriere mich auf die computergestützten Ansätze. Das ist ein relativ junges Feld. Die Impfstoffe, die wir aktuell gegen andere Viren nutzen, wurden noch nicht am Computer entworfen. Aber die computergestützte Entwicklung wird in den nächsten Jahren eine immer größere Rolle spielen, weil die Methoden immer besser werden.
Meine Forschung setzt an der Struktur von Proteinen an der Virusoberfläche an. Diese Spikes, mit denen das Coronavirus immer abgebildet ist, das sind Proteine, die das Virus benötigt, um in den menschlichen Körper einzudringen. Das menschliche Immunsystem wiederum kann Hundertausende Antikörper herstellen, die an ihrer Oberfläche alle verschieden aussehen. Wenn jetzt ein körperfremdes Protein gesichtet wird, werden einige dieser Antikörper mit geringer Affinität binden. Aber obwohl das menschliche Immunsystem diese unzähligen Antikörper herstellen kann, ist im Regelfall kein Antikörper dabei, der perfekt genug ist, dieses neu aufgetauchte Coronavirus zu neutralisieren. Es dauert einige Zeit, bis das Immunsystem die ersten Antikörper optimiert, welche dann mit hoher Affinität an diese Spikes binden und damit das weitere Eindringen des Virus in die menschlichen Zellen verhindern. Bis dahin vermehrt und verbreitet sich das Virus im Körper, schädigt Zellen und Organe, wir werden krank.
Wie gehen Sie am Computer dabei vor?
Meine Partner am Impfstoffzentrum der Vanderbilt University in Nashville untersuchten das Blut von Corona-infizierten Patienten, die als geheilt gelten, also neutralisierende Antikörper haben. Sie sequenzierten deren Hundertausende Antikörper und bestimmten diejenigen, die gut am Oberflächenprotein von SARS-CoV-2 binden. Nun müssen wir herausfinden, welche von den circa 5.000 Antikörpern das Virus auch neutralisieren. Einige dieser Antikörper könnten bereits im Sommer oder Herbst als therapeutische Antikörper eingesetzt werden, da sie schneller als ein Impfstoff zur Verfügung stehen werden. Hier klären wir im Augenblick den Wirkmechanismus auf: Wir sagen am Computer die Struktur dieser Antikörper vorher und berechnen, wie sie an das virale Oberflächenprotein binden. Manchmal können wir die Antikörper im Computer auch noch weiter optimieren. Schon jetzt werden ja Versuche mit dem Blutplasma Genesener durchgeführt. Das ist die gleiche grundsätzliche Idee – neutralisierende Antikörper im Blutplasma der Genesenen neutralisieren das Virus im Patienten. Im Gegensatz zu einem Impfstoff, wirkt ein therapeutischer Antikörper bei der akuten Infektion, baut aber keinen dauerhaften Schutz auf.
Gewappnet mit dem Wissen, wie neutralisierende Antikörper an das virale Oberflächenprotein binden, können wir anfangen, im Computer Impfstoffe zu designen. Dazu arbeiten wir nur mit einem kleinen Teil des viralen Proteins, dem Teil, an dem der neutralisierende Antikörper bindet, das sogenannte Epitope, um später bei der Impfung das menschliche Immunsystem auf diese Stelle zu fokussieren. Da virale Proteine sehr flexibel sind, arbeiten wir im Computer Mutationen ein, um das Protein zu stabilisieren. Da wir mit einem kleinen Teil des viralen Proteins arbeiten, verknüpfen wir im Rechner das Protein mit anderen im Computer entworfenen Eiweißbausteinen, die sich automatisch zu virusähnlichen Partikeln zusammenlagern, damit der herzustellende Impfstoff schlussendlich wie ein echter Virus aussieht. Denn erst dann wird unser Immunsystem ihn überhaupt eine Bedrohung wahrnehmen und daraufhin Antikörper entwickeln. Diese Testimpfstoffe werden dann im Tiermodell geprüft. Das ist ein sehr vielschichtiger Prozess.
Wie viel oder wie lange muss ein Computer daran rechnen?
Das ist schwer zu sagen. Wir arbeiten mit Computer-Clustern. Das sind ungefähr 2.000 handelsübliche Rechner, die untereinander zusammengeschaltet und ständig am Laufen sind. An denen arbeiten rund 35 Wissenschaftler meiner Arbeitsgruppe in Nashville. Das ist in diesem Fall kein großer Rechner, da gibt es weitaus größere sogenannte Supercomputer. Wir sind hier nicht unbedingt durch die Rechenzeit limitiert. Es ist vielmehr so, dass das Computermodell nicht perfekt ist. Die Biologie ist so komplex, dass sie sich nicht vollständig im Computer abbilden lässt. Proteine falten sich und binden einander, das sind energetische Prozesse. Diese streben wie alle Prozesse im Universum den Zustand niedrigster Energie an. Aber ich kann im Computer die Energie nicht genau vorhersagen, weil diese Zusammenhänge so komplex sind. Daher rechnen wir mit einer Näherung der Energie. Hinzu kommt, dass Proteine aus Zehntausenden Atomen bestehen. Da gibt es so viele Anordnungen im Raum, dass der Computer das nicht vollständig durchsuchen kann. Das kann eben auch der allerbeste, allergrößte oder allerschnellste Computer nicht leisten.
Unsere Wirkstoffentwicklung ist daher wie eine Spirale: Wir gehen in den Computer und wir wollen, wenn möglich, schnell in einer Woche das bestmögliche Protein designen. Anschließend müssen wir das Protein herstellen und testen, weil die Computerprogramme eben nicht perfekt sind. Mit den Ergebnissen können wir dann die Rechnungen weiter optimieren. Es ist also nicht so, dass man sich an den Computer setzt und nach einem Durchlauf den Impfstoff findet. Computergestütztes Wirkstoffdesign löst das Problem nicht allein. Es kann aber viel zur Lösung beitragen.
Was sind die Vorteile einer computergestützten Wirkstoffentwicklung?
Die Vorteile sind mehrschichtig. Ein Vorteil ist die Zeit, denn man kann auf Basis der Vorschläge durch den Computer gezielter Experimente machen. Man kann schneller voranschreiten, weil das Computerprogramm von sich aus schon viele Möglichkeiten ausschließt, man muss nicht mehr alles experimentell testen. Computergestütztes Design hat auch den Vorteil, dass man nicht zufällig etwas findet, was wirkt, sondern man hat dank des Computerprogramms dann auch direkt den Mechanismus verstanden. Häufig ist es in der Geschichte der Medikamentenentwicklung so gewesen, dass per Zufall bestimmte Wirkstoffe gefunden wurden ohne zu wissen, wie diese genau wirken. Wir haben nun ein genaues Computermodell, und wenn der Wirkstoff funktioniert, dann weil wir diesen genauso entworfen haben. Wir verstehen dann bereits den Mechanismus, und das ist ein sehr großer Vorteil. Wir wissen dann, wie die Stoffe wirken, wie sie funktionieren und können auch besser abschätzen, welche Nebenwirkungen entstehen könnten.
Wie arbeiten diese Computerprogramme? Werden sie mit Daten und Informationen gefüttert und entwickeln sich dadurch weiter, sodass wir zeitnah auf einen neuen Impfstoff hoffen dürfen?
Hier setzt unmittelbar meine Forschung an. Wir entwickeln diese Programme, wir überlegen uns also bessere und clevere Algorithmen, um die Ergebnisse noch effektiver vorhersagen zu können. Damit wird Grundlagenforschung mit angewandter Forschung verknüpft. Ohne die Algorithmen, die wir in den letzten fünf Jahren entwickelt haben, könnten wir jetzt nicht so schnell einen Impfstoff designen. Aber die Entwicklung und Zulassung eines Impfstoffes ist ein langwieriger Prozess. Trotz aller weltweiten Anstrengungen, wird wahrscheinlich nicht vor Frühjahr 2021 damit zu rechnen sein.