Schätzungen im März 2020 gehen davon aus, dass sich insgesamt rund 70 Prozent der Deutschen mit dem Coronavirus infizieren werden. Prof. Dr. Markus Scholz vom Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie forscht zu infektionsepidemiologischen Modellen von Erkrankungen und erklärt, wie solch' ein mathematisches Modell funktioniert.
Inzwischen sind in allen Bundesländern Infektionsfälle mit dem neuen Coronavirus bestätigt worden. Man geht davon aus, dass sich etwa zwei Drittel der Deutschen mit dem Coronavirus anstecken werden. Halten Sie die Zahl bei einer Nettoreproduktionsrate von 3 für realistisch?
Diese Zahlen korrespondieren direkt miteinander. Unter der Nettobasisproduktionsrate
versteht man die mittlere Anzahl an Personen, die zu Beginn einer Epidemie durch einen Infizierten angesteckt werden. Mit vereinfachenden Modellannahmen kann man daraus grob abschätzen, welcher Anteil der Population im Laufe der Epidemie infiziert wird. Dieser ist nicht hundertprozentig, da aufgrund der steigenden Zahl von immunisierten und infizierten Personen die effektive Ansteckungsrate immer kleiner wird. Wenn diese effektive Rate kleiner als 1 wird, so sinkt die Zahl der Infizierten stetig, das heißt die Erkrankung stirbt aus. Bei einer Nettobasisproduktionsrate von 3 wäre dies der Fall, wenn zwei Drittel der Bevölkerung infiziert oder immunisiert wäre. Für einen Wert von 2 wäre dies der Fall, wenn die Hälfte der Bevölkerung infiziert oder immunisiert wäre und so weiter. Aktuell geht man bei Covid-19 von einer Nettobasisproduktionsrate von etwas unter 3 aus, so dass die angegebene Größenordnung schon in etwa zutreffend ist. Es handelt sich hierbei jedoch um eine stark vereinfachte Abschätzung, die viele Faktoren wie zum Beispiel Bevölkerungsdynamiken, Interventionsmaßnahmen, Dauer der Immunisierung oder mögliche Veränderungen des Virus unberücksichtigt lassen.
Wie kann man die Wege von Pandemien berechnen? Wie funktioniert ein Modell?
Dies erfolgt mittels mathematischer Modelle, die grundlegende Mechanismen der Pandemie abbilden.
Eines dieser Modelle beschreibt die zeitliche Entwicklung von Infizierten, noch nicht Infizierten und bereits Immunisierten sowie Übergänge zwischen den Gruppen und je nach Komplexität weitere Faktoren, die einen Einfluss auf den Verlauf haben, wie zum Beispiel Impfprogramme, unterschiedliche Kontakthäufigkeiten zwischen Bevölkerungsgruppen sowie die Demografie. Jedoch sind stets Vereinfachungen zu treffen, da die gesamte Komplexität der Interaktion von Personen untereinander sowie der Übertragung nicht Eins zu Eins abbildbar sind. Um solche Modelle zu entwickeln, werden vor allem umfangreiche Daten zur zeitlichen Dynamik der Pandemie benötigt. Hierzu sind längerfristige Beobachtungen erforderlich. Des Weiteren werden je nach Komplexität des Modells beispielsweise auch soziologische Parameter benötigt, wie die Kontakthäufigkeiten unterschiedlicher Altersgruppen und die demografische Verteilung.
Wie genau sind die Vorhersagen und welche Probleme gibt es bei der Berechnung?
Die Genauigkeit der Vorhersagen richtet sich zum einen nach der Qualität des Modells, ob dieses die wesentlichen dynamischen Zusammenhänge richtig widerspiegelt. Man muss dazu die Übertragungswege kennen und den Ablauf der Erkrankung verstehen. Zum anderen hängt die Genauigkeit der Vorhersage stark von der Genauigkeit der Modellparameter ab. Diese müssen aus umfangreichen Daten und teilweise langfristigen Beobachtungen geschätzt werden. Da diese bei Covid-19 noch nicht in dem benötigten Umfang vorliegen, ist es zurzeit sehr schwierig, die weitere Dynamik der Epidemie zu prognostizieren. Die Simulation dieser Modelle ist teilweise sehr rechenaufwendig, insbesondere wenn die demographische Struktur der Bevölkerung und entsprechend unterschiedliche Kontaktgewohnheiten mitberücksichtigt wird. Es müssen dann mitunter mehrere tausend Gleichungen parallel gelöst werden.
Was beeinflusst die Ausbreitung?
Diese ist von vielfältigen Faktoren abhängig, die bei Covid-19 auch nur teilweise bekannt sind. Zum einen sind dies biologische Faktoren, zum Beispiel, wie wahrscheinlich sich das Virus bei direktem Körperkontakt oder bei indirektem Kontakt (Anwesenheit in der Nähe) überträgt, wie diese Übertragung von Umweltfaktoren wie Temperatur, Luftfeuchte oder Sonneneinstrahlung abhängt, wie groß die Latenzzeit ist, wie hoch die Mortalität ist und wie beständig die erworbene Immunität. Zum anderen hängt dies von soziologischen Faktoren ab, beispielsweise der Häufigkeit von direkten und indirekten Kontakten sowie der demografischen Struktur und deren Entwicklung. Schließlich hängt die Ausbreitung auch von den eingeleiteten Interventionsmaßnahmen ab, wie zum Beispiel der Früherkennung, der Isolation von Erkrankten, der Verringerung der Kontakthäufigkeiten, der verbesserten Therapien und perspektivisch den Impfprogrammen.
Sie simulieren am Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie auch Modelle zu anderen Erkrankungen – welche sind das und welche Aussagen können Sie darüber treffen?
In unserer Arbeitsgruppe beschäftigen wir uns mit der Ausbreitung von Pneumokokkenstämmen und der Wirksamkeit von entsprechenden Impfprogrammen. Auch hier bestehen noch erhebliche Unsicherheiten trotz vorliegender langjähriger Beobachtungen. Die Modelle werden deshalb kontinuierlich weiterentwickelt.
Warum ist es wichtig, diese Modelle auch zur Vorhersage zu haben?
Ziel der Modellvorhersagen ist es, die langfristige Dynamik von Epidemien, entsprechende Belastungen der Gesundheitssysteme, ökonomische Auswirkungen sowie die Wirksamkeit von Interventionsmaßnahmen und deren Kosten-Nutzen-Verhältnis abzuschätzen. Hierbei ist die Genauigkeit der Vorhersagen zu berücksichtigen. Deshalb werden typischerweise verschiedene Szenarien betrachtet, die der Unsicherheit der zugrundeliegenden Modellparameter Rechnung tragen.